Freitag, 31. Oktober 2014
Die Tänzerin
Die Tänzerin

Und da stand sie nun. Genau wie jeden Morgen. Genau wie jeden Abend. Genau wie immer. Sie zog alle Blicke auf sich, jeder sah sie, niemand konnte den Blick abwenden. Sie war schön, ja, das war sie, die kleine Tänzerin. In ihrem himmelblauen Kleid, vollkommen schmucklos, war sie selbst doch das schönste Schmuckstück, das man sich denken könnte. Auf ihren Zehen balancierend stand sie da, die Arme hoch über dem Kopf, auf den Lippen den leisen Anflug eines Lächelns. Ihr Augen waren blau, so tiefblau wie das Meer. So stand sie da, halb lächelnd, tanzend, wunderschön und blickte auf die Welt hinab. Sie war klein und doch nicht zu übersehen. Oben stand sie, im Regal, von ihren Gefährtinnen umgeben, auch diese tanzend, doch ernst blickend. Der Raum, in dem sich das Regal befand, war nicht sehr groß. Er war auch nicht sehr prunkvoll, wie man vielleicht denken könnte, oder gut ausgestattet. Es gab einen kleinen Tisch mit 2 Stühlen und ein Sofa, alles roh und abgewetzt. Das Regal war in keinem besseren Zustand. Auch nicht die Bewohner dieses kleinen Raums. Es war ein altes Ehepaar, alleine, vom Leben ermüdet. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich die Erschöpfung ab und ihre Hände zeigten die Spuren eines langen, arbeitsreichen Lebens. Sie hatten nicht viel, doch was sie hatten, liebten sie. Und die ganze Zeit wurden sie begleitet von der Tänzerin und ihrem Gefolge. Ihr halbes Lächeln versprach Mut und Zuversicht, ihre eingefrorene Bewegung war spielerisch leicht und voll Freude. In ihren Augen strahlte das Feuer der Liebe. Doch bald starb die Frau und plötzlich war er allein. Als alter Mann, arm, geschunden und ganz allein, wurde er immer trauriger. Aber jeden Abend, bevor er schlafen ging, stand er vor dem Regal und besah sich die Tänzerin. Er schöpfte Kraft aus ihrem Gesicht, aus ihrer ganzen, wundervollen Erscheinung. So lebte er vor sich hin, bis er schließlich seiner Frau folgte. Mit dem Blick auf die kleine, wunderschöne Statue schlief er auf dem Sofa ein. Als es bekannt wurde, dass nun auch der Mann den Tod gefunden hatte, wurde darüber beraten, was mit der Tänzerin und den anderen passieren sollte. Sie sollten versteigert werden, jeder sollte eine kaufen können. Doch als die Menschen den kleinen Raum, in dem kleinen Haus betraten, war das Regal leer. Die Statuen waren verschwunden, waren aufgebrochen, um einer anderen Familie Kraft zu schenken.

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